Einleitung
Flucht und Vertreibung am Ende des zweiten Weltkriegs haben auch in Mainaschaff zu einem erheblichen Anstieg der Bevölkerung geführt. Unter den vielen Gruppen, die sich in der Folge in Mainaschaff ansiedelten, sticht die Gruppe der Malkotscher hervor , weil sie 1945 nicht zum ersten Mal am Untermain Zuflucht fand. Bereits ab Herbst/Winter 1940/41 lebten sie hier in Lagern, weil sie in den „Reichsgau Wartheland“ umgesiedelt werden sollten. Hier soll beschrieben werden, wie es dazu kam.
Auswanderung nach Neurussland
Ihre Geschichte beginnt Ende des 18. Jahrhunderts im Elsaß. Obwohl das Gebiet schon ab 1681 unter französischer Oberhoheit stand, blieben die regionalen Herrschaften weitgehend autonom. Als Folge der französischen Revolution erlebte das Gebiet große Veränderungen: Französisch wurde Amtssprache, der Code Civil (Zivilrecht) wurde eingeführt und das überkommene Recht abgeschafft. Die regionalen Herrschaften wurden enteignet. Französische Soldaten besetzten das Land und nahmen ohne Rücksicht auf die Bevölkerung alles in Beschlag, was sie brauchten. Napoleon Bonaparte überzog Europa mit Krieg und benötigte immer wieder neue Soldaten. Deshalb suchten Familien aus dem Elsaß, der Pfalz und Baden eine neue Heimat im Osten, ohne Krieg.
Ihr Ziel war „Neurussland“, ein Gebiet, das heute unter den Ländern Moldau, Polen, Rumänien und Ukraine aufgeteilt ist. Es war lange Zeit zwischen dem Osmanischen Reich, Polen-Litauen und Russland umkämpft und trotz seiner fruchtbaren Böden nur sehr dünn besiedelt. Nachdem Russland den Russisch-Türkischen Krieg (1768–1774) gewonnen hatte, ordnete Kaiserin Katharina II. für das Gebiet eine umfassende Kolonisierung an, zu der auch in Deutschland Siedler angeworben wurden. Ihr Enkel Alexander I. verstärkte die Anwerbung noch einmal zu Beginn des 19. Jahrhunderts. 1819 wurde die planmäßige Anwerbung beendet.
Ausreisewillige mussten im Besitz eines gültigen Reisepasses oder Einlaßscheins sein, ihre Verbindlichkeiten in Ordnung gebracht haben und nachweisen, dass sie über das von der russischen Regierung geforderte Vermögen verfügten. Versprochen wurde ihnen unter anderem: Ab der russischen Grenze übernimmt Russland die Reisekosten und teilt ihnen unentgeltlich etwa 60 ha Land zu; sie müssen während der ersten 10 Jahre keine Steuern und Abgaben bezahlen; die Siedlungen dürfen sich selbst verwalten; die Auswanderer und ihre Nachkommen sind vom Militärdienst freigestellt; sie dürfen ihre Religion frei ausüben und haben das Recht auf Rückwanderung.
Ungefähr 3870 Personen aus dem Elsaß, ungefähr 2865 aus der Pfalz und ungefähr 5400 aus Baden folgten den Versprechungen der Werber und machten sich auf den langen, beschwerlichen Weg, zum Teil mit Schiffen auf der Donau (Ulmer Schachteln). Am Ziel angekommen, zeigte sich bald, was von den Versprechungen zu halten war. Besonders die Freistellung vom Militärdienst wurde nicht eingehalten. 1833 kündigte der russische Staat alle Privilegien auf, die er den deutschen Siedlern zugestanden hatte. In der unmittelbaren Nachbarschaft entstanden neue Dörfer und beanspruchten Land. Dadurch wurden die verfügbaren Parzellen immer kleiner. Auch führten Heuschrecken, Missernten und Viehseuchen zu Hungersnöten und Armut. Viele Siedler konnten ihre zahlreichen Nachkommen nicht mehr ernähren.
Von Neurussland ins Osmanische Reich
Auf der Suche nach einer neuen Heimat verließen 25 Siedler-Familien das Gebiet um Odessa und machten sich mit Pferd und Wagen auf eine Irrfahrt durch Osteuropa bis sie 1842 in das Gebiet zwischen dem Unterlauf der Donau und dem Schwarzen Meer kamen, das Dobrudscha (rumänisch Dobrogea) genannt wird und damals zum Osmanischen Reich gehörte. 1843 gründeten sie das Dorf Malkotsch (Malcoci). Der Ort war rein katholisch und verwaltete sich selbst. 1879 wurde die Schule, 1883 die Kirche erbaut. Die Siedler lebten von 1844 bis 1877 unter türkischer, 1877 bis 1878 unter russischer, 1878 bis 1916 unter rumänischer, 1916 bis 1918 unter bulgarischer, ab 1918 wiederum unter rumänischer Herrschaft. 1940 gab es in der Dobrudscha 40 Dörfer mit fast ausschließlich deutscher Bevölkerung; Malkotsch selbst hatte über 1100 Einwohner.
„Heim ins Reich“ (1940)
Das Schlagwort „Heim ins Reich“ kam Ende des ersten Weltkriegs auf und wurde von den Nationalsozialisten für ihre „Volkstumspolitik“ verwendet. Sie wollten ein „Großdeutsches Reich“ schaffen und darin alle deutschen Minderheiten, die noch außerhalb des Deutschen Reichs lebten, zusammen führen. Die Entscheidung vom Sommer 1940, auch die „Dobrudschadeutschen“ umzusiedeln, führte im Oktober 1940 zu einem Staatsvertrag zwischen dem Deutschen Reich und dem Königreich Rumänien. Ein „Umsiedlungskommando“ nahm am (Mittwoch) 30. Oktober in Konstanza (Constanta) seine Arbeit auf und teilte die Dobrudscha in sieben Ortsbezirke ein; eine Vorauswahl für die Verteilung der Umsiedler im Deutschen Reich.
Die Umsiedler durften nur ihre bewegliche Habe mitnehmen. Grund und Boden, Gebäude, lebendes und totes Inventar übernahm der rumänische Staat und verpflichtete sich, Entschädigungszahlungen an das Deutsche Reich zu leisten. Sogenannte „Taxatoren“ schätzten den Wert dieses Vermögens, aber geringer als er tatsächlich war, und übervorteilten damit die Umsiedler. Großgepäck, also Kisten mit Kleidern, Bettwäsche und sonstigen Textilien, wurde auf der Donau nach Wien verschifft und dort gelagert. Als den Umsiedlern nach einigen Monaten ihr Großgepäck wieder zugestellt wurde, fehlte vielen vieles.
Am (Sonntag) 17. November begann der erste Transport ins Deutsche Reich, der sechs Tage dauern sollte. Zum tränenreichen Abschied läutete noch einmal die Glocke der St. Georgskirche, die beim zweiten Transport mitgenommen wurde, aber verloren ging und nie wieder auftauchte. Mit dem Pferdefuhrwerk ging es von Malkotsch zur Bahnstation nach Tulcea. Von dort mit der Bahn nach Cernavoda (Schwarzes Wasser), wo der Donau-Schwarzmeer-Kanal in die Donau mündet, und dann mit dem Schiff in das Durchgangslager Belgrad-Semlin. Von Semlin dann wieder mit der Bahn über Graz nach Deutschland. Dorfgemeinschaften der Ortsbezirke 1 bis 3 (Norddobrudscha) wurden auf den „Gau Mainfranken“, Dorfgemeinschaften der Ortsbezirke 4 bis 7 (mittlere Dobrudscha) auf den „Gau Niederdonau“ aufgeteilt. So kam ein großer Teil der Malkotscher nach Aschaffenburg, weil es hier im Hafengebiet ein leer stehendes Barackenlager des Reichsarbeitsdienstes gab. Die erste Zeit dort verbrachten sie in Quarantäne. Dann mussten die Männer in Fabriken und bei der Deutschen Reichsbahn arbeiten.
Vom Untermain in den „Reichsgau Wartheland“
Nach einem Jahr und neun Monaten Aufenthalt im Aschaffenburger Barackenlager wurden die Dobrudscha-Umsiedler am (Montag) 1. Juni 1942 zur Ansiedlung im „Reichsgau Wartheland“ erneut verladen. Bedingung für eine Ansiedlung war jedoch die Aufgabe der rumänischen Staatsbürgerschaft und die Einbürgerung ins Deutsche Reich.
Eine „Fliegende Kommission“ der Einwandererzentrale in Litzmannstadt (Łódź) wies eingebürgerte Umsiedler am (Freitag) 3. Juli 1942 in Kalisch (Kalisz) in polnische Landwirtschaften in den Kreisen Krotoschin (Krotoszyn ), Jarotschin (Jarocin), Schroda (Środa Wielkopolska [Großpolen]) und Kosten (Kościan) ein. Ansässige Polen wurden enteignet.
Etliche der Dobrudschadeutschen verweigerten jedoch die Einbürgerung und wollten stattdessen nach Rumänien zurück. Deshalb kamen sie am (Donnerstag) 2. Juli 1942 in Konzentrationslager; Frauen ins KZ Ravensbrück (Brandenburg), Männer ins KZ Flossenbürg (Bayern, Oberpfalz). Dort wurde Ferdinand Roth derart mißhandelt, dass er starb. Unter diesem Eindruck gaben die Verweigerer schießlich ihren Widerstand auf. Am (Samstag) 17. Oktober 1942 wurden sie nach Lindenau (Lindava [Tschechien]) entlassen, wo ihre Familienangehörigen seit dem 2. Juli 1942 im ehemaligen Reichsarbeitsdienst-Lager lebten. Am (Sonntag) 18. Oktober 1942 wurden auch sie eingebürgert und anschließend in den „Reichsgau Wartheland“ weiterbefördert.
Entgegen vorheriger Zusagen wurden die wehrfähigen Männer doch zur Wehrmacht eingezogen, sodass ihre Frauen und Kinder, unterstützt von polnischen Arbeitskräften, die Landwirtschaften bis zum Zusammenbruch 1945 alleine führen mussten.
Vom „Reichsgau Wartheland“ zurück an den Untermain
Am (Samstag) 20.Januar 1945 mussten Frauen und Kinder wieder einmal ihre Habseligkeiten packen, um auf Pferdefuhrwerken vor den immer näher rückenden Russen zu flüchten. 14 Tage und Nächte bei einer Kälte bis zu 25 Grad ging der Weg zurück nach Deutschland. Fliegerangriffe und Artilleriebeschuß forderten viele Tote. In Deutschland mußte jeder selbstständig Unterkunft und Schutz suchen. Deshalb blieben viele Dobrudscha-Deutsche in Sachsen-Anhalt, im Umkreis von Halle/Saale. [Die Entfernung zwischen Łódź(Litzmannstadt) und Halle/Saale beträgt etwa 600 Kilometer. Bei einer Tagesleistung von 30 Kilometern braucht man für die Strecke 20 Tage.]
Da Aschaffenburg, Hammelburg und Brückenau noch gut in Erinnerung waren, kehrten andere in diese Städte zurück. Die erste Familie, die sich in Mainaschaff niederließ, war die Familie Johann Klein. Ihr folgten die Familien Brand, Schmidt, Baumstark, Kiefer, Brendel, Ankert, Ehret, Tuchscherer, Melle, Kosolowski, Cisik, Frühwirt, Türk und Kuckert. Diese Familien haben sich in Mainaschaff so gut integriert, dass bereits 1970 eine neue Ortsstraße „Malkotscherstraße“ benannt wurde. Heute sind die Angehörigen der ersten Generation Malkotscher in Mainaschaff alle verstorben und die der zweiten Generation, die beide Umsiedlungen und die Flucht aus Polen mitgemacht haben, über achtzig Jahre alt, wenn sie nicht auch bereits verstorben sind. Die dritte und vierte Generation kennt die beschriebenen Vorkommnisse nur noch aus den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern, aus Büchern oder dem Internet.
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Literatur
Lothar Schlett: Die Aussiedler zu Malkotsch. In: Heimatbuch ascapha – Mainaschaff, 1980
Jahrbuch der Dobrudscha-Deutschen 1956 und 1965
Heimatbuch der Dobrudscha-Deutschen, 1840 – 1940
Chronik der Familie Kiefer, Mainaschaff
Die Dobrudscha, (http://www.dobrudscha.eu/)
Paul Träger: Die Deutschen in der Dobrudscha. In: Schriften des deutschen Auslandsinstituts zu Stuttgart.
(Kulturhistorische Reihe. Band 6). Stuttgart 1922. Nachdruck. 2012, ISBN 978-3-7357-9155-9.
Malkotsch: Bessarabiendeutscher Verein e.V., (https://www.bessarabien.de/dobrudscha-heimatgemeinden/malkotsch__2.php)
Zentrum gegen Vertreibungen: (https://www.z-g-v.de/)
Die Umsiedlung der Volksdeutschen aus der Dobrudscha im Jahre 1940: Zentrum gegen Vertreibungen (Archiv): (http://doku.zentrum-gegen-vertreibung.de/archiv/)
Auswanderer Baden: (https://deutsche-kolonisten.de/leb-wohl-sueddeutschland/auswanderer-baden-1804-1834/)
Bundeszentrale für politische Bildung: (https://www.bpb.de/themen/migration-integration/russlanddeutsche/252006/von-der-anwerbung-unter-katharina-ii-bis-1917/)