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Das Schloß in der Sünfte

Das „Schloß in der Sünfte“ – von Leo Weismantel.

Wenn der Autofahrer über Gemünden am Main ins Tal der Sinn einbiegt, stößt er hinter dem Dorf Obersinn in den Reitgrund, ein Wiesental von besonderer Anmut. In diesem Grunde, an einer Stelle, an der eine Brücke über die Wasser der Sinn auf die Westseite führt, wurde am 30. August 1964 ein großes Denkmal errichtet, in dessen Stein in knappen Versen die Sage vom „Schloß in der Sünfte“ erzählt wird.

Nun denn, als Kind war ich Zeuge der letzten Spinnstuben, im Speicher meines Elternhauses stand noch der Webstuhl vom ,,Herrle“, dies war einer meiner Großväter. An solchen Abenden, die dann während meiner Kinderjahre versanken, hörte ich als einer der Letzten von der Sage dieses Schlosses in der Sünfte.

Da wurde erzählt:

In alter Zeit, als das Tal noch voller Sümpfe und Seen war, im Tal, aber auch in den Wäldern, stand in der „Sünfte“ ein Schloss, es stand mitten im See auf einem Felsengrund, der aus den Wassern herausragte. Die Dörfer rundum waren drei Jungfrauen zins- und steuerpflichtig. Die drei Jungfrauen lebten in Saus und Braus, zogen aus edlen Ständen Liebhaber herbei und führten in Schlemmerei und Zechgelagen ein Sündenleben zwischen all den Dörfern der Armen und Hungernden.

Als sie eines Tages wieder ein solches Lasterfest feierten, es war eine große Hungersnot im Lande, kam das Volk von Obersinn, die Alten, Greise und Greisinnen, Männer und Frauen, junge Burschen und Mädchen und Kinder zu jenem See, in dessen Mitte das Schloß in der Sünfte stand.

Da standen sie rundum, ausgemergelt, bleich und zitternd vor Hunger, aus dem Schloß aber drang die Musik der Geiger und Flöten und Posaunen, das Gestampfe und der Jubel der Tanzenden.

Und schließlich kamen die drei sündhaften Jungfrauen mit ihren Tänzern auf einen Balkon, der über den Wassern des Sees hing, sie sahen die Armen, die Hungernden, lachten und ergötzten sich an diesem Anblick des Elends und ließen dann Körbe weißer Brote herbeitragen und warfen die Brote hinaus in den See und riefen den Hungernden zu: „Fangt! Fangt! Wenn Ihr Hunger habt, lauft über die Wasser des Sees und fangt auf das Brot!“

Die Hungernden aber standen starr vor Entsetzen, sie sahen die Brote, sie sahen den Frevel, sie standen da wie erstarrt.

Da nun geschah es, dass aus der Tiefe des Waldes eine fremde Bettlerin kam, plötzlich stand sie am Ufer des Sees, dann schritt sie in das Wasser und die Wellen trugen sie und alle, die das sahen, erschraken, dass sie bei diesem Schauspiel, das jetzt geschah, kaum zu atmen wagten.

Die märchenhafte Bettlerin fing die Brote auf, las die Brote auf, die auf dem Wasser schwammen und warf sie den Hungernden, die am Ufer standen, zu.

Die sündhaften drei Jungfrauen, obwohl vor Schrecken und Entsetzen starr, warfen immerzu das Brot in den See, die Bettlerin fing die Brote auf und stillte den Hunger der Armen. Und als der Hunger der Armen gestillt war, ging die Bettlerin in die Mitte des Sees, hob ihre Hand drohend gegen das Schloß der Frevler, da fielen die Lumpen, in die sie gehüllt war, von ihrem Leib, das Aussehen der alten Bettlerin verwandelte sich, da wurde sichtbar:

In überirdischer Herrlichkeit zeigte sie sich jetzt in ihrer wahren Gestalt: es war die mütterliche Königin des Himmels und der Erde, sie drohte Frevlern, die das Gottesgeschenk des Brotes geschändet hatten, sie erhob sich über die Erde, ein Donner rollte vom Himmel, in dem die Heilige sich erhob, die Erde begann zu beben, das Volk von Obersinn floh vor Schrecken in den Wald und die noch einmal zurückblickten, sahen, wie der Fels, auf dem das Schloß in der Sünfte stand, sich spaltete, das Schloß mit den drei Jungfrauen und ihren Spießgesellen in die Tiefe eines Abgrundes versank und die Wasser die tiefe Schlucht füllten und Wolkenbrüche des Himmels die Grube dieses furchtbaren Grabes schlossen.

Text: Prof. Dr. Leo Weismantel, bearbeitet von Alfred Andres

Fotos: Alfred Andres

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