Teil 1
Hella, wie ich Helen Feingold, geborene Strauss, seit Beginn nennen durfte, war bei unserem ersten Kontakt genauso alt wie ich es heute bin- 70!
Mein damaliger Mann, der Steinbildhauer Helmut Hirte, hatte im Jahr 1994 von Hella den Auftrag erhalten das Grab ihrer Familie auf dem jüdischen Teil des Altstadtfriedhofs zu restaurieren. Mittlerweile konnte durch Nachforschungen ermittelt werden, wo und wann genau ihre im September 1942 aus Aschaffenburg deportierte Großmutter tatsächlich umgekommen war. Hella bat uns diese neuen Daten noch in den Grabstein einzugravieren.
Dieser eher knappe Briefverkehr zu einem zunächst geschäftlichen Belang war der Beginn eines intensiven, inspirierenden und empathischen Briefwechsels zwischen meiner mütterlichen New Yorker Freundin und mir. Ca. 45 Briefe und mindestens halb so viele üppig beschriebene Karten aller Art und zu den unterschiedlichsten Anlässen gingen in beinahe 30 Jahren zwischen uns hin und her. Es gab zudem zahlreiche Besuche über den Atlantik. Nun da Hella sehr betagt und an ihre kleine Wohnung gefesselt ist, kann sie ihr geliebtes „Aschebersch“ nicht mehr besuchen und freut sich umso mehr über Besuch aus der alten, nie vergessenen, Heimat.
In ihrem ersten „privaten“ Brief berichtete mir Helen von ihrer Familie. Dass sie zunächst mit den Eltern in Würzburg lebte, wo sie 1924 geboren wurde. Sie schreibt sehr aufgewühlt von den schrecklichen Ereignissen in ihrer Heimatstadt während der „Kristallnacht“ und Folgezeit und wie es ihrem Vater damals erging.
Brief Helen Feingold 30.10.1994 (der gesamte Brief kann hier nachgelesen werden)
„Wir hatten das Glück dass man nur meinen Vater mitten in der Nacht holte, erst war er im Gefängnis in Würzburg, dann kam er nach Buchenwald. Dort wurde er krank und verlor das Gehör auf einem Ohr. Er verbrachte dort sechs Wochen bevor es meiner Mutter gelang über einen Gestapo Beamten in Würzburg seine Freilassung zu erwirken (… sie bat ihn kniefällig meinen Vater herauszulassen, sodass er noch einmal seinen sterbenden Vater besuchen kann.)“
Der Beamte beschied ihrer Mutter mit folgenden Worten, laut Hellas Brief, was er von dieser Bitte hielt: „Des is mir ganz worscht, der eine kann da sterbe und der andere dort sterbe.“ Diese brutale Antwort wurde wohl in der Familie überliefert und sie selbst werde diese nie vergessen, wie sie schreibt. Offensichtlich verdankte Hellas Vater diesem kaltschnäuzigen Beamten aber wohl dann letztlich doch seine Freilassung und sein Leben.
Er konnte den Vater noch einmal sehen bevor dieser verstarb.
1939 musste die kleine Familie Würzburg verlassen, der Vermieter dort hatte ihnen die Wohnung gekündigt, und zog zu den Großeltern Solinger in die Fabrikstrasse 12. Hella erachtete dies übrigens in der Rückschau immer für ihre damalige Überlebenschance. Sie war sich sicher, dass man sie in Würzburg deportiert hätte.
Gerda, Helens jüngere Schwester, erinnerte sich im Januar 2023 bei meinem Besuch in New York spontan an die Hausnummer 12. Heute mahnen eben vor diesem Haus Nr. 12 in der Fabrikstrasse zwei Stolpersteine an die Großmutter Sofie Solinger, geb. Strauss und Helens Tante Karoline Solinger. Beide wurden im Jahr 1942 deportiert, zunächst im April die Tante Karoline und erst ein halbes Jahr später die Großmutter. Irgendwann übereignete mir Helen dann später die Kopie eines Telegramms vom 20. April 1942, indem durch die Großmutter die bevorstehende Deportation der eigenen Tochter, also Karolines, der Verwandten Erna Solinger in NY mitgeteilt wurde.
Wir gesund, hoffen Ihr auch, Oma Frankfurt keine Adresse. Karo scheidet nächsten Tage von hier. Lebt
wohl, G“t gebe Wiedersehen.
Schreibt Mutter
Mutter, Karo, Regine
In der „Evakuierungs- Liste“ vom 23. April 1942 der ersten Juden aus Aschaffenburg ist Karoline Solinger aufgeführt.
Mir fehlen bis heute die Worte wenn ich mir diesen schaurigen Sachverhalt vor Augen führe und was er für die liebsten Menschen aus Helens Familie bedeutete.
Mehr dazu: Abhandlung über die jüdische Familie Solinger-Strauß
Helen Feingold geborene Strauss ist von uns gegangen.
Sie verstarb nach langer, tapfer ertragener Krankheit am 17. Mai 2024
in den Armen ihres Sohnes Gary in ihrem Zuhause in New York.
Bis zum Schluss blieb sie, was sie ein Leben lang war, eine kämperische, mutige und optimistische Frau.
Bis ganz am Ende ihres bewegten Jahrhunderlebens vergass sie ihr geliebtes „Aschebersch“ niemals und sprach gerne in dem, ihr immer noch vertrauten, Idiom der ehemaligen Heimat.
Viele Male hat sie diese schon ab den Sechziger Jahren besucht und auch das Grab der Großmutter und Tante auf dem jüdischen Friedhof. Den beiden sind in der Fabrikstrasse 12 zwei Stolpersteine gewidmet. Hier, bei den Großeltern Solinger, verbrachte Hella als Kind ihre Schulferien, als sie noch mit den Eltern in Würzburg lebte.
Alle die das Privileg hatten, Helen Feingold, genannt Hella, kennen lernen zu dürfen werden sie unendlich vermissen und ihr ein würdiges Andenken bewahren.