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Der 27. September 1944 – Wie wir den Krieg überlebten

Unsere Eltern wohnten seit 1937 in einer Doppelhaushälfte im Parterre in Aschaffenburg, Goldbacher Str. Über uns wohnte die Hausbesitzerin und unter dem Dach eine ältere Frau mit ihrer Tochter.

Seit 1939 war Krieg und seit 1940 gab es wiederholt Luftangriffe in Aschaffenburg. Im Herbst 1940 wurden Damm, der Auhof und die Fasanerie in Mitleidenschaft gezogen. Danach schien Ruhe einzukehren und Aschaffenburg blieb verschont, bis 1943 Schweinheim  von Hunderten von Brandbomben getroffen wurde. Von da an verging kaum ein Tag ohne Luftalarm. Wenn die Sirenen gingen, hieß es, Notgepäck aufnehmen und den Luftschutzkeller aufsuchen. In unserem Fall war es der Hauskeller.

Am 27. September 1944 – ich war etwas über 5 Jahre alt – erfolgte eine Reihe von Luftangriffen, die nicht abzureißen schienen und bis in den März 1945 dauern sollten. An diesem Tag war Vaters Kusine – unsere Tante Käthe Sauer – bei uns zu Besuch. Wir, unsere Mutter, Tante Käthe und ich begaben uns bei jedem Alarm mit meinem 4 Monate alten Bruder Rolf (Jülg) in den Keller.

Im Keller hatte jede Etage eine besondere Ecke, in der man bei Fliegeralarm Platz nehmen konnte. Unser Vater hatte Mutter darauf hingewiesen, dass, wenn einmal nur wir im Haus wären, wir uns direkt an die Brandmauer und den Durchschlag setzen sollten. Diese Wand würde am haltbarsten sein.

Wie immer war an diesem Tag im September 1944 der Vater an seiner Arbeitsstelle. Sonst war niemand im Haus und wir waren mindestens schon 5 x bei Fliegeralarm angezogen und mit Taschen im Keller gewesen, natürlich saßen wir immer an der Brandmauer auf einem Bettgestell. Gegen Abend war erneut Fliegeralarm und wir rannten, so wie wir gerade waren, in Hausschuhen, Mutter und Tante in Kittelschürzen, in den Kellerraum.

Kaum saßen wir, stürzten zwei Soldaten aus der in der Nähe gelegenen Kaserne zu uns ins Haus, als es schon losging. Ein Soldat bekam es in dem Raum mit der Angst zu tun und rannte wieder nach oben. Aber er kam nicht weit. Eine Bombe traf in diesem Augenblick unser Haus und zerstörte es. Die herabfallenden Trümmerteile erschlugen und begruben ihn unter sich. Dann musste alles sehr schnell gehen.

Am Durchschlag zur angebauten Doppelhaushälfte standen immer ein Eimer Wasser und eine Spitzhacke. Der zweite Soldat griff nach der Spitzhacke, machte den Durchschlag frei, zog mich und meine Tante hindurch. Meine Mutter riss meinen Bruder im letzten Moment aus dem Babykorb an sich, denn die Kellerdecke stürzte herunter. Sie hatte nicht gemerkt, dass ich nicht mehr neben ihr saß, sie fühlte nur die Steine neben sich und schrie, da sie dachte, ich wäre darunter. Der Soldat rannte zurück, beruhigte sie und holte auch sie hindurch ins Nebenhaus.

Ich kann mich nur noch erinnern, dass es brannte, und sah nur Trümmer. Unsere Nachbarn führten uns erst einmal in eine Garage und gaben uns zu trinken, wir wurden dann von ihnen aufgenommen.

Wie es dann weiterging, weiß ich nicht mehr genau. Wir wurden nach Stadtprozelten evakuiert, wo wir drei in einem Zimmer wohnten und schliefen. Wenn Fliegeralarm war, wollte ich in keinen Keller mehr gehen, und manchmal band man mich fest, dass ich nicht weglaufen konnte. Wir hatten nicht viel zu essen. Bei den Bauern konnten wir Bucheckern, die wir im Wald gesammelt hatten, umtauschen zu Kartoffeln, Eiern und Mehl.

Als der Krieg zu Ende war, erlebten wir noch den Einzug der Amerikaner. Sie wurden von der Bevölkerung sehr bejubelt und sie warfen uns Kindern Kaugummis zu. Wie lange wir in Stadtprozelten waren, weiß ich auch nicht mehr, aber nach einiger Zeit konnten wir nach Aschaffenburg zurückkehren. Unsere Tante Käthe und der jüngste Bruder unseres Vaters Johannes Jülg – Onkel „Hanni“ – nahmen uns in ihre Wohnung auf. Es war die Wohnung in Damm am Dämmer Friedhof, in die unsere Großeltern im Jahr 1907 eingezogen waren.

Von unserem Vater hatten wir bis zur Bombardierung nichts mehr gehört. Er wurde zum Volkssturm eingezogen und verbrachte seine Tage und Nächte in Aschaffenburg, zuletzt im Luftschutzkeller unter dem Schloss Johannisburg. Was zum Ende des Krieges mit ihm geschah, erfuhr die Familie erst lange Zeit danach:

Um die Stadt vor dem Schlimmsten zu bewahren, erklärte sich der Führer der 7. Kompanie, Volkssturm-Bataillon 15-1, Johann Zimmerman bereit, die Übergabe der Stadt anzubieten. Er erteilte der Kompanie den Befehl, die Waffen niederzulegen und stellte es seinen Leuten frei, zu bleiben oder zu gehen. Unser Vater, Volkssturmmann Ludwig Jülg, erklärte sich nach Bekanntwerden des Plans bereit, Johann Zimmerman zu begleiten. Die beiden Parlamentäre begaben sich mit weißer Flagge zusammen mit einem gefangenen US-Soldaten auf die Suche nach der nächstgelegenen amerikanischen Befehlsstelle, die sie nach einigem Suchen auch fanden.

Unser Vater geriet zusammen mit Johann Zimmerman in Gefangenschaft. Etwa eine Stunde nach seinem Abtransport entschied der amerikanische Militärgouverneur, dass Angehörige des Volkssturms nicht in Gefangenschaft genommen werden sollten. Für unseren Vater kam die Entscheidung zu spät. Wir sollten Ihn erst 14 Monate später in jämmerlichem Zustand wiedersehen.

Der Artikel entstand nach der Erzählung meiner Schwester und eigenen Recherchen.

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