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Warum haben die Leiderer den Necknamen ‚Schissmelle‘?

 

Es war ein Treffen des Heimathub in Aschaffenburg, nachdem mich Karl-Dieter Jakob, ein alter Bekannter, der in Wenigumstadt ortsgeschichtlich aktiv ist, anschrieb und fragte, ob ich wisse, warum die Bürgerinnen und Bürger des Aschaffenburger Stadtteils Leider den Necknamen (Spitznamen) „Schissmelle“ hätten. Der Spitzname war mir auch bekannt, aber warum dieser Name, das wusste ich nicht.

Der weiße Gänsefuß

Im Internet ist folgende Beschreibung zu finden: „„Leiderer Schissmelle“ ist der Neckname für die gebürtigen Leiderer Einwohner seitens der Aschaffenburger und der umliegenden Ortseinwohner. Der Ursprung rührt wohl aus der vermehrten Ansiedlung des im Volksmund Schissmelle genannten weißen Gänsefußes auf dem Gelände der Mainwiesen und den Rändern der örtlichen ackerbaulichen Nutzflächen.“[1]

„Der Weiße Gänsefuß (Chenopodium album), auch Weiß-Gänsefuß genannt, ist eine Pflanzenart aus der Gattung Gänsefuß (Chenopodium) in der Familie der Fuchsschwanzgewächse (Amaranthaceae). In Mitteleuropa meist als landwirtschaftliches Unkraut betrachtet, dient er in anderen Regionen als Gemüse, Pseudogetreide oder Futterpflanze.“[2]

Karl-Dieter Jakob schrieb[3]: „Basis ist ein Buch eines alten Heimatforschers aus Wenigumstadt, in Mundart und Hochdeutsch verfasst. Der Begriff „Schissmelle“ wird in einer seiner Geschichten genannt. Ich habe eine Gruppe (von ortsgeschichtlich Interessierten) aufgefordert, sich mit dem Wort einmal in Herkunft und Anwendung zu befassen.
Selbst habe ich natürlich auch recherchiert. Dabei kam ich auf den Necknamen der Leiderer.“

Lebensmittel – Geruch – Häufigkeit

„Mein Favorit ist die Variante mit den Schissmellen als Lebensmittel. Die Stockstädter wurden mir von Heimatforschern als extrem arme Bauern geschildert. Die Böden seien so schlecht gewesen, dass nichts Gescheites darauf gewachsen sei. Das dürfte auch für die Leiderer in unmittelbarer Nachbarschaft gelten.

Vize-Meister für mich die Version mit dem angeblich üblen Geruch der Pflanze, die wie Schiss riechen soll, daher der Name in unserer Gegend (laut Internet). Wenn die Leiderer nach Aschaffenburg über die Brücke kamen, wird man sich in der Stadt die Nase gerümpft haben.

Bestimmt sind die Leiderer Kinder nicht schneller gewachsen, also geschossen, als die anderen hier in der Region. Wegen der kargen Lebensmittelversorgung oben eher langsamer. Vielleicht war es auch einfach eine Kombination aus Ernährungsform, Geruch und eben der Häufigkeit der Pflanzen am Mainufer.“[4]

 

Einfach fragen

Vielleicht hilft ein Blick in den Bild- und Textband über Leider. „Wer wissen will, was ein echter Leiderer ist und was die kleine Leiderer Welt im Innersten zusammengehalten hat, tut gut daran, die ‚alten Leiderer‘ zu fragen.“[5] Gelesen, getan ….. Meine Nachfrage in Leider, z.B. bei einer älteren Metzgereiverkäuferin, bei einem älteren Leiderer in der Ruhlandstraße und bei einem 75jährigen ehemaligen Stadtratskollegen, erbrachten keine Ergebnisse. Sie kannten zwar alle den Spitznamen, aber woher und weshalb Fehlanzeige. Auch ein über 90jähriger bekannter Leiderer konnte mir nicht weiterhelfen.

„Die typische Figur des Leiderers ist aber die ‚Schissmelle‘, benannt nach einem Ackerunkraut, das sich niemals unterkriegen ließ. Die Schissmellenart der Leiderer lebt fort im Vereinsleben und in der Leiderer Kerb, die mit ihren derben Sprüchen wie ein Relikt aus der bäuerlichen Vergangenheit in die Gegenwart hineinragt.“[6]

Die Leiderer Kerb wird in Mundart beschrieben: „sou moi Liewe, jetzt isses sou weit, heit Owend beginnt unsere traditionelle „Leiderer Kerb“, von eiern Schissmelle-Zichter.[7]

Geschichte

Vielleicht spielte auch die Geschichte bei dem Necknamen eine Rolle. „Die Nähe zur Aschaffenburger Brücke ist dem Dorf Leider in seiner Geschichte immer wieder zum Verhängnis geworden. Immer wenn Truppen vor die Tore der Stadt zogen, war das linke Mainufer militärisches Aufmarschgebiet und Leider der Ort zum Fouragieren und Plündern. Die Leiderer Bewohner waren die Leidtragenden, wenn die Soldaten in das unbewehrte Dorf einfielen und ihren Übermut an den Bauern und Frauen ausließen. Als Kurmainz 1560 die Bewaffnung seiner Untertanen überprüfen ließ, wurde für Leider folgender Vermerk festgehalten: Haben kein Gewehr, sein aller Irrer Haab beraubt worden. … Hundert Jahre später, nach dem dreißigjährigen Krieg, stand in Leider nach einer amtlichen Bestandsaufnahme von 1651 kein Haus mehr. In der Endphase des Zweiten Weltkriegs war Leider noch Bombenziel, obwohl sich die deutsche Front der „Festung Aschaffenburg“ auf das andere Mainufer zurückgezogen hatte.“[8]

Daraus ließe sich folgende Vermutung ableiten:

  1. Leider liegt außerhalb der Stadt (Bild Stadtplan) und wurde in der Geschichte mehrfach gebrandschatzt und litt unter den Angriffen auf die Stadt.
  2. Die Leiderer sind immer wieder aufgestanden und haben auch durch Zuwanderung ihre Gemeinde weiterbestehen lassen.
  3. Das hat sich auch in der Leiderer Kerb niedergeschlagen.

 

Diese Erkenntnisse sind meine Vermutungen, genauere Belege dafür habe ich nicht. Letztlich steht Schissmelle für die – selbstironische – Einschätzung: Unkraut vergeht nicht.

Die Wissenschaft

Die Sprachwissenschaftlerin PD Dr. Almut König antwortete auf die Nachfrage nach dem Ursprung des Necknamens: „Ich habe in den Archiven des Fränkischen Wörterbuchs nachgesehen, aber leider nichts gefunden, was zur Klärung Deiner Frage beitragen könnte.

Im Wörterbuch der deutschen Pflanzennamen von Heinrich Marzell findet man für den Weißen Gänsefuß (Chenopodium album) Bezeichnungen wie „Scheißmelde“ – was eine standardnahe Übertragung von mundartlich „Schissmelle“ ist. Die Bezeichnung wird auf die abführende Wirkung der Pflanze zurückgeführt – also nicht auf den Geruch (siehe: Marzell Band. I. Spalte 934. Leipzig 1943).

Grundsätzlich ist es ja so, dass Ortsnecknamen wenig freundlich sind. Schließlich will man die Bewohner der Nachbarorte ärgern. Marzell schreibt, dass der Weiße Gänsefuß „sehr verbreitet auf Schutt, an Mauern, Dorfstraßen usw.“ (Spalte 932) ist. Welche Schlüsse, gerade diese Namensgebung auf die Situation der Leiderer wirft, ist Interpretation und kann letztendlich nicht nachgewiesen werden. Interessant ist allerdings immer, dass solche Necknamen, gerne von den Geneckten aufgegriffen und zu Selbstbezeichnungen werden. Die so Geneckten zeigen damit, dass ihnen der Spott egal ist und der Bezeichnung wenig „Wahrheit“ – meist eher Neid oder ein unbegründetes Gefühl der Überheblichkeit der Neckenden – zu Grund liegt.“[9]

FAZIT

„Fassen wir zusammen: Das Bild, das die Necknamen vom Nachbarn vermitteln, ist ein schlechtes. Bezeichnungsmotive sind unsinnige, unanständige Handlungen, entstellende Körperteile usw. Das Verhältnis der Geneckten zum eigenen Spottnamen ist ambivalent. Einerseits ist der Spottname für den eigenen Ort nicht immer bekannt, andererseits werden manche Necknamen nicht ausschließlich von den anderen verwendet. Wie die Beispiele aus dem Internet zeigen, werden bestimmte Necknamen als Tradition begriffen. Sie werden von den Geneckten selbst benutzt und dienen wie ein Markenzeichen der Identifikation mit dem Heimatort.“[10]

Die Leiderer Schissmellen können stolz auf ihren Necknamen sein.

 

 

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Leider (abgerufen am 12.09.2024)

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Weißer_Gänsefuß (abgerufen am 12.09.2024)

[3] Mail vom 30.6.2024

[4] Mail vom 1.7.2024

[5] Leben in Leider, Portait eines Stadtteils, bearbeitet von Wilhelm Kaup, Wolfgang Kaup, Klaus Hapke, Bildband, Aschaffenburg 1995, Text bei Bild 50

[6] ebenda

[7] Leben in Leider, Text bei Bild 85

[8] Leben in Leider, Text bei Bild 39

[9] Mail vom 29.07.2024

[10] Dreidörfer Narrn stehn auf drei Sparrn – Ortsnecknamen in Unterfranken, hrsg. von Monika Fritz-Scheuplein, Almut König u.a., Würzburg 2012, S.12

Kommentare

  1. Danke für die umfassende und inbesondere aus den verschiedensten Blickwinkeln betrachtete Darstellung der Entstehung des Necknamens für die Leiderer. Als „Leiderer Bu“ kannte ich aus Kindheitstagen immer nur die Darstellung der Herleitung des Namens vom typischen „Unkraut“ der Mainauenlandschaft, der „Schissmelle“.

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