Der Titel „Die Zeitungsleser“ könnte für diese Fotografie von Gottfried Schüßler nicht passender sein und erzählt soviel. Mitglieder der Familie Schüßler sitzen im Höfchen des „Schüßlerhauses“ in Glattbach und drei Generationen der Familie lesen die neuesten Nachrichten und informieren sich über die regionale Ereignisse und das Weltgeschehen. Sie haben es sich auf einer Bank vor dem Haus bequem gemacht und Julius Schüßler sitzt auf einem Hocker, ihm schließt sich seine Großmutter Karolina an, von allen liebevoll „die Großmama“ genannt. Karolina (1844 – 1926) und ihr aus Hösbach stammender Ehemann Adam Schüßler (1846 – 1904) gründeten 1878 eine Zigarrenfabrik in Glattbach und bauten 1880 das Wohn – und Geschäftshaus in der Hauptstraße 73. Adam und Karolina hatten 5 Kinder, Johann, Margarethe, Julius Benedikt, Balthasar Ludwig und Adam. Sohn Gottfried Benedikt starb als Kind. Adam war sehr musikalisch und gehörte zu den ersten Mitgliedern des Gesangverein Germania Glattbach, gegründet 1873. Von den drei ersten Söhnen ist bekannt, dass sie gut Klavier spielen konnten. Johann, der Erstgeborene, spielte unter anderem noch Zither und Violine und war 41 Jahre Dirigent des Gesangverein Germania Glattbach. Julius Benedikt beherrschte das Harmonium und die Violine, Balthasar Ludwig wurde Lehrer in Kolmbach/Lindenfels im Odenwald und war Bratschist in einem bekannten Quartett in Darmstadt. Von ihm ist auch bekannt, dass er im Spätsommer 1900 zu Fuß über die Alpen ging. Meine Großmutter, Lina Schüßler verh. Göbel, bekam von ihm eine hübsche Postkarte aus Italien geschickt, die heute noch existiert. Über ihn und seine Geschwister wäre noch so viel mehr zu schreiben. Nach dem Tod von Adam Schüßler, im Jahr 1904, übernahmen Johann und Julius Benedikt die Zigarrenfabrik und führten sie zunächst gemeinsam. Julius Benedikt schied später aus und zog nach Aschaffenburg und erwarb ein Haus in der Gartenstraße, heute Kolbornstraße. Dort handelte er mit Zigarren und machte Musik. Verheiratet war er mit Magdalena Zimmer.
Johann führte die Fabrik weiter fort und hatte etwa 15 feste Beschäftigte und zahlreiche Heimarbeiter. Den Rohtabak bezog Schüßler früher aus der Pfalz, später über Importeure in Bremen und Hamburg aus Jaffa, Sumatra und Brasilien. Seine Kunden waren die Gastwirtschaften in Aschaffenburg und Umgebung. Ein Verwandter verkaufte für ihn in Nürnberg und in Mainz vertrieb Jakob Kuhn aus Glattbach die Schüßler`schen Zigarren. Die Zigarrensorte „Edelblatt“ wurde von einem Verwandten in Düsseldorf verkauft. Auch die Männer des Gesangvereins wurden nicht vergessen und es wurde die Zigarrensorte „Corona“ zur Gesangsprobe mitgebracht. Sonntags nach dem Kirchgang holte man beim „Hanni“ seine Zigarren und mit Verwandten und Freunden wurde ein Schöppchen Wein getrunken. Nach Schüßlers Tod am 16.7.1950 wurde das Geschäft aufgelöst, die Vorräte und Geräte verkauft. Über Johann sagte man später: „Die Liebe stand ihm ins Gesicht geschrieben.“ Und so kannte man ihn auch aus Erzählungen.
Ganz rechts im Bild Anna Schüßler geb. Morhard ( 1875 -1964), Johanns Frau. Anna und Johann hatten 4 Kinder. Paulina verh. Göbel (1899 – 1974), Julius (1901 – 1956), Margarethe (Greta) verh. Sommer (1904 – 1995) und Gottfried (1908 – gefallen 1941) der Fotograf dieses Bildes. Anna hatte noch 7 Geschwister und ihre Vorfahren führten, nach dem 30ig jährigen Krieg, 150 Jahre den Nilkheimer Hof und bauten 1720 die Nilkheimer Kapelle. Ein Nachkomme, Philipp Jakob Morhard, übernahm 1776 das Hofgut Rauenthal bis ca. 1830. Das Hofgut Rauenthal gehörte früher zu Johannesberg und seit 1976 zu Glattbach. Johanns Bruder Adam Schüßler ( 1883 – 1940), Bildmitte, wurde im 1. Weltkrieg im Jahr 1916 schwer verletzt und war seitdem halbseitig gelähmt. Er wurde von seiner Mutter und von Johann und dessen Frau Anna gepflegt und versorgt. Er hatte ein Wohnrecht, auch nach dem Tod der Mutter Karolina Schüßler blieb dieses Recht selbstverständlich bestehen und er war ein fest integrierter Teil der Familie.
Julius der erstgeborene Sohn arbeitete in der Zigarrenfabrik mit und war später bei der Post. Er heiratete Anna Sahm und hatte 2 Kinder, Maria und Hermann, das erstgeborene Kind der beiden starb 2 Tage nach der Geburt. Sein Name war Valentin Julius wurde im 2. Weltkrieg eingezogen und kam nach Süditalien. Dort holte er sich die Tropenkrankheit Malaria. Durch diese Erkrankung wurde sehr wahrscheinlich die Leber stark geschädigt und er starb 1956 an einem Leberkarzinom. Nach dem Krieg ging er zu Fuß mit seinen Kameraden von Italien über die Alpen zurück in die Heimat. Nach seiner Ankunft holten ihn seine Frau und seine Tochter mit dem Fahrrad dort ab. Er war der Beschreibung nach ein liebevoller Vater und hatte ein ruhiges und heiteres Wesen. Julius war seinem Vater Johann in dieser Hinsicht bestimmt sehr ähnlich.
Greta, die zweite Tochter von Johann und Anna, sitzt mit aufgeschlagener Zeitung zwischen ihrer Mutter und Onkel Adam. Eine schöne Frau, die später Josef Sommer aus Aschaffenburg-Gailbach heiratete und mit ihm nach Düsseldorf- Benrath zog. Dort besaßen sie eine Firma und Josef wurde Ratsherr in Düsseldorf. Beide hatten zeitlebens enge Beziehungen zu ihren Familien in Glattbach und in Aschaffenburg. Josef hatte auch eine literarische Ader und war an Kunst interessiert und das war auch einer der Gründe seine Heimat Aschaffenburg zu besuchen. Seiner Frau Greta musste er bei der Eheschließung versprechen, bei auftretenden Heimweh nach Glattbach, zu jeder Zeit dorthin zurückfahren zu können. Er hat sein Versprechen gehalten. Auch mit den gemeinsamen 4 Söhnen. Mit einer wunderschönen Aufnahme von Greta, die er immer bei sich trug, wurde Josef auch beigesetzt. Es ist noch zu sagen, dass die beiden, nach dem Willen der Brautmutter, ihre Hochzeitsnacht der Mutter Gottes weihen sollten… Für die Nacht des Hochzeittages war die Rückreise in die neue gemeinsame Heimat Düsseldorf per Zug geplant und Brautmutter Anna war fürs erste beruhigt. Doch Anna hatte die Rechnung ohne das Brautpaar gemacht denn die Fahrt endete bereits in Frankfurt, wo Josef schon ein Hotelzimmer gebucht hatte. Ein Schelm…
Wäre da noch die älteste Tochter von Johann und Anna Schüßler, Paulina verheiratete Göbel. Leider ist sie auf diesem Foto nicht abgebildet. Lina, wie sie genannt wurde war intelligent und immer mit ihrer Freundin Klassenbeste. Sie durften mit Ihrem Lehrer einmal im Jahr zur Prüfung zum Schulrat nach Aschaffenburg und vor einem Kollegium ihre Rechenkünste zeigen. Clemens Budion, der Knecht von Familie Ludwig und Paulina Hufgard geb. Morhard, spannte zu diesem Anlass die beiden Schimmel vor den Wagen und fuhr die drei nach Aschaffenburg. (L.Hufgard, Bürgermeister von Glattbach.P. Hufgard geb. Morhard die Schwester von Anna Schüßler) Wie in dieser Zeit üblich besuchte Lina auch die Handarbeitsschule und erstellte mit sehr viel Geschick wunderbare Tisch- und Bettwäsche. Auch die Kochkunst beherrschte sie mit großem Können. Viel lieber hätte sie aber den Beruf der Krankenschwester gewählt. Leider durfte sie diesen schönen und so wichtigen Beruf nicht erlernen. Damals bestimmten die drei Goßen“K`s“ das Leben der Frauen.
1923 heiratete sie den Schmied Balthasar Göbel aus Glattbach, der 14 Jahre eine eigene Schmiede in Glattbach führte. Die beiden führten eine glückliche Ehe und den beiden wurden ein Sohn und eine Tochter geschenkt. Sie bauten ein Haus, dass von Linas Onkel, einem Architekten (Ferdinand Morhard), entworfen wurde und nicht weit von ihrem Elternhaus, heute noch steht.
Der jüngste Sohn Gottfried und Fotograf dieser schönen Aufnahme, machte nach der Schulzeit auf dem Gymnasium in Aschaffenburg eine Ausbildung zum Kaufmann in der Kleiderfabrik Kunkel & Co., Aschaffenburg, Frohsinnstraße. Er war ein gutaussehender Mann, sehr intelligent, sportlich (Leichtathletik, Ski fahren usw.) und ein leidenschaftlicher Hobbyfotograf. Im 2.Weltkrieg fiel Gottfried am 03.09.1941 in Russland Nähe des Ilmensee`s. Ein großer und tragischer Verlust für Familie Schüßler und seine Verlobte.
Ich glaube, dass alle, die auf diesem schönen Foto zu sehen sind und natürlich alle anderen ebenso, sich sehr über diese Veröffentlichung im Heimathub freuen würden und auch nicht vergessen sind.