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1945: Ein Kind sucht ein Zuhause

Eine Geschichte aus meinem Leben – Ein Kind sucht ein Zuhause

Aufgeschrieben von: Irma Reisert, geb. Walter (1927 – 2020)

Ich erzähle Ihnen eine wahre Geschichte.

Anfang Mai 1945: Die Besatzungsmächte hatten Aschaffenburg besetzt, als ich den 11jährigen Sohn unserer Schneiderin im Städtischen Krankenhaus Aschaffenburg nach einer Blinddarmoperation besuchte. Im Krankenzimmer standen fünf Betten, an der Wand hinter der Tür ein Babybettchen. Darinnen stand weinend ein Baby und streckte mir die Hände entgegen, um herausgenommen zu werden. Eine Krankenschwester kam hinzu und ich durfte die Kleine, ein blondgelocktes, goldiges Mädchen, in meinen Armen halten. Und sie war zufrieden. Die Schwester, die noch im Raum war, sagte zu mir: ”Sie können das Kind mitnehmen!” Ich war erstaunt. Das Baby war zwei Wochen vorher im Krankenhaus abgegeben worden und niemand wusste Näheres. Zu Hause erzählte ich meinen Eltern mit glänzenden Augen von dem süßen Kind und ich redete so lange auf meinen Vater ein, bis er am gleichen Tag mit mir ins Krankenhaus ging. Auch er war von dem Mädchen begeistert. Die Krankenschwester brachte uns zu Dr.L, dem Chefarzt. Dieser stimmte sofort einer Übergabe des Kindes zu und war sehr erfreut, dass sich jemand dem Kind annahm. Mit einer Unterschrift meines Vaters – ich war noch nicht einmal 18 Jahre alt – und der hinterlassenen Adresse war alles erledigt.

Nun hatten wir ein Baby. Meine Mutter nannte es Antonia, der richtige Name war ja nicht bekannt. Die Kleine fühlte sich pudelwohl und täglich lernte sie etwas Neues dazu. Sie war das Glück der ganzen Familie. Unsere Hauswirtin, die ein Lebensmittelgeschäft besaß, tauschte Nudeln gegen ein Paar Lackschühchen ein. Eine kinderreiche Mutter überließ uns spontan den Sportwagen (Buggy) ihrer Kinder. Unsere Schneiderin nähte die schönsten Kleidchen und Röckchen aus Sommerkleidern von mir. Kleiderkarten hatten wir schon, aber es gab ja nichts dafür zu kaufen.

So verging die Zeit. Unsere Antonia lernte bei uns laufen und ein paar Zähnchen konnte sie auch schon zeigen. Gerne hätten wir Fotos von unserem Pflegekind gemacht, aber auf Befehl der Amerikaner mussten alle Fotoapparate zur Vernichtung abgegeben werden.

Eines Tages saß ich auf der Treppe vor unserem Haus, als ein Nachbar mir zurief: “Eure Antonia wird abgeholt!” Ein Schrecken fuhr mir durch die Glieder.

Der Nachbar kam an diesem Abend von der Stadt her (wir wohnten in Leider). Damals musste man mit dem Kahn über den Main fahren, da die Mainbrücke gesprengt war. Er hatte im Kahn mit zwei Frauen gesprochen, die ihn nach unserer Familie fragten.

Alles stand Kopf. Meine Mutter sagte: “So schnell geben wir die Kleine nicht her. Erst muss die Frau beweisen, dass sie die Mutter ist.” Jetzt war es soweit. Alle waren angespannt. Es klingelte und zwei junge Frauen kamen die Treppe herauf. Als eine davon zur Tür hereinkam und “Sigrid” rief, lief ihr Antonia gleich in die Arme. Ja, es war die Mutter des Kindes.

Die beiden Frauen, die Mutter des und deren Freundin, waren stark verschmutzt. Sie trugen weiße Röcke und Blusen und meine Mutter erlaubte ein Bad und das Reinigen ihrer Kleidung. Die Mutter des Kindes erzählte uns, dass sie aus dem Ruhrgebiet stamme und dort evakuiert wurde. Sie wohne jetzt mit ihrer Freundin in einer Spessartgemeinde. Als sie von Antonia/Sigrid getrennt worden sei, habe sie mit dem Kind, ihrer Freundin und zwei Amerikanern auf einer Wiese gelegen, was streng verboten war. Sie seien von Amerikanern, die mit MP bewaffnet waren, im Jeep abtransportiert worden. Die Frauen seien ins Gefängnis an der Sandkirche gekommen und das Baby eben ins Krankenhaus.

Nach kurzer Absprache ließ die Mutter das Kind weiterhin bei uns. Für wie lange?

Eines Tages erschien sie und halte das Kind ab. Sie erzählte, sie solle im Wald arbeiten. Wenn sie aber das kleine Kind habe, würde man davon absehen. Nun mussten wir Abschied nehmen. Unter Tränen packte meine Mutter die Sachen der Kleinen ein. Den Buggy gaben wir auch mit.

Nun waren wir alleine. Jeder von uns war sehr traurig und wir vermissten Antonia sehr. Ich saß mit meiner Familie am Küchentisch, mein Freund (mein späterer Mann), der gerade aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekommen war, saß auch bei uns, als wir beschlossen, dass wir mit den Fahrrädern in die Spessartgemeinde fahren, um Antonia zu besuchen. Dort angekommen informierte uns eine Dorfbewohnerin, dass die junge Mutter mit Kind in der Unterkunft bei den Amerikanern sei. So war es auch. Antonia schlief im Buggy. Sie war vollkommen vernachlässigt und schmutzig. Sofort war die Mutter damit einverstanden, dass wir Sigrid, wie auch wir sie jetzt nannten, mitnahmen.

Abwechselnd zogen mein Freund und ich den Buggy mit Sigrid hinter den Fahrrädern her. Zuhause angekommen wurde das Kind gebadet und gefüttert und wir konnten es wieder so richtig knuddeln. Das Mädchen war überglücklich. Ungefähr drei bis vier Monate war Sigrid noch bei uns. Es war eine wunderschöne Zeit, das Kind wachsen und gedeihen zu sehen. Danach wurde sie von ihrer Muter abgeholt. Sie fuhren zurück in die Heimat der Mutter. Wir haben nie mehr etwas von dem Kind und der Mutter gehört. Ich weiß weder einen Familiennamen noch eine Stadt. Wie wird es Sigrid wohl ergangen sein?Diese Frage beschäftigt mich bis heute.

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