von Dr. Monika Schmittner, Kreisheimatpflegerin Landkreis Aschaffenburg
Kindertage Ende der fünfziger Jahre … Freizeit und Ferien verbrachten wir auf der Straße, ohne großartige Spielsachen, aber mit viel Fantasie. Wir ließen unsere Kreisel springen, malten mit Ziegelsteinscherben „Himmel und Hölle“ auf den holprigen Asphalt, tobten uns beim Völkerballspiel aus oder erlebten Abenteuer pur bei „Räuber und Gendarm“ in den nahen Feldern und Hohlen. Wir entbehrten nichts, weil kein Kind mehr hatte als das andere, und das war gut so.
Eines Tages im Herbst tauchte ein fremdes Mädchen in unserer Straße auf. Es trug einen riesengroßen, rosaroten Plastikreifen mit sich, legte ihn sich um und ließ ihn stumm in kreisenden Bewegungen um die kaum vorhandene Taille schwingen. Mit offenem Mund bestaunten wir dieses nie zuvor gesehene runde Etwas, dem wir keinen Namen zu geben vermochten. „Es ist ein Hula-Hoop-Reifen“, sagte das Mädchen und ließ ihn jetzt schwungvoll abwärts um Hüften und Kniekehlen rotieren. Wir waren begeistert; und bald durfte jedes von uns Kindern das faszinierende Ding mit dem noch faszinierenderen Namen ausprobieren.
Bald besaß fast jedes Kind in der Nachbarschaft einen Hula-Hoop-Reifen, nicht nur in rosa, sondern auch in leuchtend gelb, grün oder blau. Auf der Straße hula-hoopte es jetzt in allen Variationen: um den Hals, durch die Arme bis hinunter zu den Fesseln und wieder hinauf, einbeinig und beidhändig. Vergessen waren Kreisel, Himmel und Hölle, Räuber und Gendarm. Auch ich wünschte mir sehnlichst einen Hula-Hoop-Reifen, doch alles Betteln, Weinen und Trotzen zu Hause war umsonst. In der Scheune fand ich einen schmalen Holzreifen aus einem alten Transmissionsgetriebe, doch er entbehrte der Leichtigkeit und Attraktivität eines echten Hula-Hoop-Reifens.
Dann stand Weihnachten vor der Tür. Auf der Straße kreisten die Hula-Hoops noch immer in ungebrochener Begeisterung. Mein Wunschzettel an das Christkind enthielt nur drei Worte: HULA-HOOP-REIFEN, liebevoll ummalt mit Tannenzweigen und roten Kerzen. Voller Zuversicht erwartete ich den Heiligen Abend, fest davon überzeugt, dass das Christkind meinen Herzenswunsch erfüllen würde. Eines Tages fragte mich meine Mutter beiläufig: „Was wünschst du dir eigentlich zu Weihnachten?“ „Nur einen Hula-Hoop-Reifen, sonst nichts, nur einen Hula-Hoop-Reifen!“ Von ganz anderen Existenzsorgen geplagt, entgegnete meine Mutter ziemlich gereizt: „Was wünschst du dir mehr: Einen Hula-Hoop-Reifen oder ein friedliches Weihnachtsfest?“ Leidenschaftlich brach es aus mir heraus: „Einen Hula-Hoop-Reifen!“
Die Ohrfeige verschmerzte ich leichter als das, was der Gabentisch schließlich präsentierte: Sechs sündhaft teure Eierlikörgläser, mundgeblasen und handgeschliffen, die die Reihe der Saft-, Bier-, Rot- und Weißweingläser, Sektflöten und Cognacschwenker in meiner Aussteuer komplettierten. Ebenso wenig konnte ich mich an der hochwertigen weißen Damast-Bettwäsche erfreuen. Auch der Hinweis, mit einer soliden Aussteuer später bessere Heiratschancen zu haben, löste in meinem kaum zehnjährigen Herzen keine Glücksgefühle aus und tröstete vor allem nicht über die Enttäuschung hinweg, dass es keinen Hula-Hoop-Reifen gab. Nach außen wurde es ein friedliches Weihnachtsfest im Kreise der Familie, ganz im Sinne meiner Mutter. Doch die Traurigkeit in meiner Seele saß tief und war nachhaltig.
Der ungeöffneten Bettwäsche entledigte ich mich zwanzig Jahre später bei einer Spendenaktion. Die Eierlikörgläser überlebten unbeschadet sieben Umzüge und lagerten bis gestern – unbenutzt und noch original in Holzwolle verpackt – im Keller. Heute befreite ich eines vom Staub und der Wehmut der letzten vierzig Jahre, ließ es – mundgeblasen und handgeschliffen – in seinem Kristallglanz erstrahlen und schenkte mir beim Schreiben dieser Kindheitserinnerung einen versöhnenden Eierlikör ein.
(Erschienen in der Weihnachtsausgabe des Main-Echo am 24.12.2002)