Aschaffenburg, eine bayerische Stadt – mittendrin in Rhein-Main 

Aschaffenburg blickt auf eine lange und abwechslungsreiche Geschichte zurück. Mit der „Geschichte der Stadt Aschaffenburg im 19. und 20. Jahrhundert“ ist in zwei Bänden eine zusammenhängende, eindrucksvolle Gesamtschau über die Entwicklung der Stadtgeschichte entstanden.

Was hat die Geschichte Aschaffenburgs besonders geprägt?  

S.F.: Das ist ohne Frage die fast 800-jährige Zugehörigkeit Aschaffenburgs zum Erzbistum Mainz. Die Stadt fungierte als Nebenresidenz der Kurfürsten und Erzbischöfe vorwiegend im Sommer. Die lange politische Zugehörigkeit zu Mainz hat nicht nur die Ausrichtung der Stadt nach Westen hin begünstigt, sondern ebenso in den Westspessart, von dem ein Großteil ebenfalls zu Mainz gehörte. Sogar sprachlich lässt sich der Einfluss dieser Territorialherrschaft an der Aschaffenburger Mundart nachweisen. Man spricht rheinfränkisch. 

Was macht die Geschichte Aschaffenburgs so interessant?  

S.F.: Das ist vor allem der rasante politische Wechsel, den die Stadt nach dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803, bei dem es u. a. um die Säkularisation kirchlicher Herrschaftsgebiete ging, durchlaufen hat. Unter dem letzten Mainzer Erzbischof und Kurfürsten Karl Theodor von Dalberg wurde das „Fürstentum Aschaffenburg“ aus den verbliebenen rechtsrheinischen Gebieten des Kurstaates als souveräner Staat gebildet. Die Stadt wurde zur Residenz ausgebaut, was mit einem enormen wirtschaftlichen Aufschwung verbunden war. Dalberg ließ eine Kunstgewerbeschule, eine Universität und ein Theater errichten. Da er die Gunst Napoleons genoss, stieg er ab 1806 zum Fürstprimas des Rheinbundes auf. Durch Gebietserweiterung und -tausch 1810, bei der die Reichsstadt Frankfurt zum Fürstentum hinzukam, entstand dann das „Großherzogtum Frankfurt“. Obgleich eigentlich Frankfurt der Haupt- und Regierungssitz dieses neuen Modellstaates war, residierte Dalberg lieber im Schloss Johannisburg. Als nach der Völkerschlacht von Leipzig im Oktober 1813 Napoleons Stern sank, fand sich Aschaffenburg schließlich ab 1814 im Königreich Bayern wieder. Damit begann eine ganz andere, neue Geschichte. Jetzt war es vor allem der bayerische König Ludwig I., unter dem Bauaufträge und königlicher Glanz in die Stadt kamen. 

Was brachte Aschaffenburg zu besonderer Bedeutung?  

S.F.: Obwohl zunächst beschaulich und von kleiner Größe, wählten politisch wichtige Persönlichkeiten Aschaffenburg zu ihrem bevorzugten Aufenthaltsort und verknüpften dadurch die Geschicke der Stadt mit zentralen Ereignissen der Zeit. Hinzu kommt, dass Aschaffenburg von jeher durch seine geografische Lage begünstigt ist, denn egal unter welcher Herrschaft Aschaffenburg stand, die Stadt nahm immer die Rolle einer großen Vermittlerin zwischen der offenen Rhein-Main-Senke, die sich bis Mainz und Bingen erstreckt, und dem Spessart, der die Verbindung zur fränkisch-bayerischen Landschaft herstellt, ein. Die wichtigsten Transit- und Transportrouten seit dem Mittelalter, für Kaufleute und Händler auf dem Weg nach Frankfurt, führten durch den Spessart. Auf diese Weise fungierte die Stadt als besonderer Kommunikationsraum, in dem das Geschehen diesseits und jenseits des Spessarts zusammengebracht wurde. Auch der Main als verbindende Wasserstraße spielte dabei eine wichtige Rolle. 

Welche Auswirkungen hatten die zahlreichen Grenzverschiebungen und die damit jeweils einhergehenden Zugehörigkeiten auf die Stadt? 

S.F.: Man könnte meinen, dass die zahlreichen politischen Grenzverschiebungen Spuren hinterlassen und zu einem Mentalitätswandel der Stadtbevölkerung geführt haben. Dem scheint aber nicht so zu sein, jedenfalls gibt es keine Berichte darüber, dass unter der jeweils neuen Herrschaft in Aschaffenburg Hotels oder Straßen umbenannt oder die sichtbaren Zeichen alter Herrschaft in der Stadtarchitektur getilgt worden wären. Die Vergangenheit blieb selbstverständlicher Teil der Aschaffenburger Stadtgeschichte. Seine Gönner und Förderer hielt man durchgehend in Ehren. Flexibilität und Selbstbewusstsein der Stadtbewohner haben dazu beigetragen, dass die unterschiedlichen politischen Zugehörigkeiten aus den Aschaffenburger Bürgerinnen und Bürgern kaum über Nacht „Großfrankfurter“, Franken oder Bayern machten, sondern sie am Ende des Tages vor allem immer eines blieben − Aschaffenburger. 

Gibt es trotz oder gerade wegen der Grenzverschiebungen typische Aschaffenburger Wesensmerkmale? 

S.F.: An Aschaffenburg lässt sich tatsächlich gut zeigen, dass die durch veränderte Herrschaftsstrukturen ausgelösten Grenzverschiebungen nur eine sehr begrenzte Wirkung auf das Selbstverständnis der Stadtbewohner hatten. Die Aschaffenburger haben sehr entspannt auf die veränderten Zugehörigkeiten reagiert. Das zeigt, dass die Einbettung in eine Region und in einen damit verbundenen Kulturraum für die Lebenswirklichkeit und den Alltag der Menschen viel entscheidender ist als Grenzziehungen. Wollte man daraus ein Wesensmerkmal ableiten, so bestünde es vielleicht in dieser Art gelassener Ignoranz gegenüber Grenzen, aus der zugleich das Bestreben entsteht, das Beste aus den sich bietenden Welten zu machen.  

Gibt es in Aschaffenburg ein spezifisches Regionalbewusstsein? 

S.F.: Das Regionalbewusstsein der Aschaffenburger scheint mir durch eine gewisse Dynamik gekennzeichnet, der keine spezifische regionale Abgrenzung zugrunde liegt. Diese Dynamik wird vielmehr geprägt durch einen lebhaften Austausch mit dem Umland sowohl in Richtung Rhein-Main als auch in Richtung Franken. Man gehört mit großer Selbstverständlichkeit beiden Welten an. Der kleine Grenzverkehr zwischen zwei Bundesländern ist Routine und Gewohnheit, die hessische Staatsgrenze ist gerade mal drei Bahnstationen von Aschaffenburg entfernt. Städte wie Frankfurt, Darmstadt oder Hanau liegen einfach näher als Würzburg. 

Welche Traditionen haben sich bis heute in Aschaffenburg gehalten? 

S.F.: Diese Kultur des crossover, die sich durch einen lebhaften Austausch mit dem Umland inspirieren lässt, scheint mir in Aschaffenburg eine Art Tradition geworden zu sein. Sie kommt auch kulinarisch zum Ausdruck: fränkischer Wein, bayerisches Bier, hessischer Apfelwein, Schweinebraten in Weißbierjus und Grüne Soße mit Tafelspitz, alles in Aschaffenburger Gaststätten zu bekommen. 

Aschaffenburg gehört zu Bayern, doch ist Aschaffenburg wirklich eine bayerische Stadt? 

S.F.: Das ist eine gute und nicht ganz leicht zu beantwortende Frage: Nimmt man die Mundart und die geografische Lage Aschaffenburgs, so spricht nichts zwingend für Bayern. Zunächst basierte das „Bayerischwerden“ Aschaffenburgs auch nur auf einer administrativen Eingliederung von oben. Dass sich heute jedoch die meisten Aschaffenburgerinnen und Aschaffenburger ganz selbstverständlich dem Freistaat zugehörig fühlen, könnte für den Erfolg eines dynastischen Projektes sprechen, das Ludwig I. in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Angriff genommen hat. Aschaffenburgs besondere Verankerung in der Region, die Verbundenheit mit Rhein-Main und die Anbindung an Mainfranken, wurde jedenfalls durch die bayerische Zugehörigkeit nie in Frage gestellt oder gefährdet. Die jetzt publizierte Geschichte der Stadt Aschaffenburg im 19. und 20. Jahrhundert spürt diesen Entwicklungen ausführlich und äußerst facettenreich nach. 

Wie würden Sie Aschaffenburg in drei Worten charakterisieren? 

S.F.: Offen, kulturstark, unterschätzt (aber nur von denen, die die Stadt nicht kennen).

 

Prof. Dr. Sabine Freitag, die unter anderem zur bayerischen Regionalgeschichte forscht, war Mitarbeiterin des Forschungsprojektes zur Geschichte Aschaffenburgs im 19. und 20. Jahrhundert. In ihrem Beitrag untersucht sie die regionale Verortung der Stadt Aschaffenburg in Bayern und Rhein-Main. 

Das Interview mit Frau Professorin Freitag ist in der April-Ausgabe von „Brot&Spiele“ erschienen.