Am Nachmittag des 18. November 1857 – ein Mittwoch – wurden die Aschaffenburgerinnen und Aschaffenburger aus ihrem Alltag herausgeholt: Ein leichtes Erdbeben erschütterte gegen 15 Uhr nachmittags die Stadt. Was war geschehen?
An diesem Tag explodierte in Mainz im Stadtteil „Kästrich“ der Pulverturm, bei dem es mehr als 50 Tote gab. Der „Mainzer Anzeiger“ veröffentlichte dazu ein Extrablatt. Darin steht:
Mainz, den 18. Nov. Heute Nachmittag um 3 Uhr erfolgte eine Explosion des Pulverthurms am Gauthor; die ganze Stadt ist in den größten Schrecken versetzt: fast alle Fenster der Stadt sind zertrümmert, Schornsteine herniedergefallen, die Häuser im alten Kästrich sämmtlich zusammengestürzt; der Stephansthurm hat sich gesenkt. Todte und Verwundete hat es viele gegeben.
Durch die Katastrophe wurde der damals westliche Teil der Stadt Mainz verwüstet, im gesamten Stadtgebiet entstanden große Schäden. Ein mit 200 Zentner Pulver, 240 Zündern und 700 gefüllten Granaten bestücktes Pulvermagazin wurde wahrscheinlich durch Sabotage eines Soldaten in die Luft gesprengt. Der Martins- oder Stockhausturm, der ein Teil der mittelalterlichen Gautoranlage bildete, wurde dem Erdboden gleichgemacht.
Weitere Explosionen konnten verhindert werden, da das Militär in kürzester Zeit die umliegenden Gänge unter Wasser setzte. In der Stadt Mainz waren zwischen 50 und 120 Todesopfer zu beklagen. Es gab hunderte Verletzte, Häuser wurden vollständig zerstört. Sämtliche Fensterscheiben waren zersplittert. Die erst wenige Jahre zuvor gegründete Freiwillige Feuerwehr barg Tag und Nacht Tote, löschte Brände und räumte Trümmer beiseite. Eine Welle der Hilfsbereitschaft ging durch ganz Europa. In der Folge davon wurde die Stadt Mainz zur „Touristenattraktion“. Etwa 40.000 Menschen sollen am ersten Wochenende die Stadt besucht haben.
Die Luftlinien-Entfernung von Mainz nach Aschaffenburg beträgt 63 km. Wie die Explosion bei uns in Aschaffenburg zu spüren war, schrieb die „Aschaffenburger Zeitung“ nicht. Sie konzentrierte sich auf Berichte über die Auswirkungen in Mainz und in der unmittelbaren Umgebung. Über Hilfsaktionen in den deutschen Staaten und dem Ausland wurde ausführlich berichtet. Sogar Kaiser Franz Joseph von Österreich und Kaiserin Elisabeth (Sisi) spendeten für die Opfer des Unglücks.
Einen Anhaltspunkt bieten die Aufzeichnungen des Miltenberger Bürgermeisters Jakob Josef Schirmer (Amtszeit: 1870-1905): Im 78 km Luftlinie entfernten Miltenberg war die Erschütterung so stark, daß dieselbe auch hier bemerkt wurde, wie auch der Hall eines fernen Donners vernehmbar war. Daher dürfte die Erschütterung und der Donnerhall in Aschaffenburg etwas stärker als in Miltenberg gewesen sein.
In Mainz erinnern heute die Straßennamen „Gautor“ und „Am Pulverturm“ an die 1857 zerstörten Bauten.
Quellen:
Ulrike Glatz: Die Pulverturmexplosion, in: Wolfgang Dobras (Hrsg.), Eine Zeitreise in 175 Geschichten. Der Mainzer Altertumsverein 1844-2019, Mainz 2019, S. 60-61.
Jakob Josef Schirmer: Chronik der Stadt Miltenberg 1850-1926, Band 2, Miltenberg 2004, S. 627.
Bildnachweis:
Stadtarchiv Mainz, BPSP_029668